HARALD PHILIPP

Hart am Abgrund sieht man den Horizont besser

Harald Philipp ist Bikebergsteiger. Er trägt sein Bike zum Gipfelkreuz und fährt hinten wieder runter. Manchmal auf Klettersteigen, an denen Bergsteiger bergauf alle Hände voll zu tun haben, tanzt er mit traumwandlerischer Sicherheit auf dem Bike bergab. Wir trafen den Neuen im Endura-Clan nicht in Schottland, sondern in Kitzbühel.

“Das sind doch keine Berge!”, sagt der Blondschopf und deutet auf die sanften Skihügel, die Kitzbühel so nett einrahmen. “In der Brenta oder im Steinernen Meer – da stehen echte Berge!”, und seine lustigen Augen leuchten. Er steht auf Bergpersönlichkeiten, die wie Nowitzki aus einer Schülerbasketballmannschaft herausragen. “Der tollste Berg ist immer der, von dem ich als nächstes abfahre ...”, entfährt es ihm und er lacht wie ein 13-jähriger Chorknabe.

Harald Philipp besetzt eine kleine, aber ungemein faszinierende Schublade im Schrank namens “Mountainbiken”. Er und seinesgleichen schleppen ihre langhubigen Bikes auf wilden Wegen zum Gipfelkreuz, um auf meist noch wilderen Wegen wieder bergab zu zirkeln. Harald ist einer der ersten und heute sicher der bekannteste dieser “BBS”-Subkultur. Der 33-Jährige ist Alpinist, Abenteurer, Filmer, Vortragsredner – vor allem aber Mountainbiker. Also ein Typ mit vielen Talenten. Er ist aber nicht nur ein begnadeter Fahrtechniker, sondern ein ebensolcher Redner, der mit erfrischender Eloquenz, die aber die überheblich wirkt, immer mehr Mountainbiker – aber nicht nur die – zu seinen Vorträgen nach Vancouver, Alta Badia und Erlangen lockt.


DIE BESTEN SPIELPLÄTZE

“Keine Ahnung, ob diese Charakterisierung auf mich passt, das müssen andere entscheiden. Jedenfalls habe ich irgendwo einen Turbo eingebaut. Und das Mountainbike ist ein perfektes Vehikel, um mich kreativ auszudrücken.”

Wie gesagt, Harald ist vor allem aber Mountainbiker. Einer, dessen Spielplätze so ausgesetzt sind, dass es einem beim Zuschauen schon schwindlig wird. Seine Hausrunde daheim in seiner Wahlheimat Innsbruck ist für den normalen Mountainbiker nicht mal zu Fuß machbar. Beim Endura-Fotoshooting erschreckt Harald den Fotografen Sean Hardy fast zu Tode, als er eine handtuchschmale Rampe hinunterfährt. Auf dem Vorderrad. Dabei lacht er wie eine verrostete Gießkanne. Ein untrügliches Zeichen, dass er das Hügelchen bei Kitzbühel als netten Sonntagnachmittagsausflug betrachtet. Nach dem Mittagsschläfchen, vor Kaffee und Kuchen. Draußen aber nur Kännchen!

HARALD PHILIPP
HARALD PHILIPP
HARALD PHILIPP
HARALD PHILIPP
HARALD PHILIPP

VOM BRETTEBENEN SIEGEN IN DIE SENKRECHTE WELT INNSBRUCKS

Harald saß mit 11 Jahren das erste Mal im Mountainbikesattel. Später maß er sich im Cross-Country und Marathon, später dann mit den Kumpels im Downhill und Enduro. “Wenn du dort wohnst, wo es keine Berge gibt, bist du als Bergradler ‘ne arme Sau”, sagt er und das spitze Näschen vibriert vor Wonne. Also zog er nach dem Schulabschluss direkt nach Innsbruck. Um schon bald in den exklusiven Club der “Vertrider” aufgenommen zu werden. Als erster und nach wie vor einziger Norddeutscher. Was viel über den Charakter der Innsbrucker – aber noch mehr über die Fahrkünste des Nordlichts im Süden – aussagt.


HARALD'S “HOCHSCHULE”: DIE BIKEBAREN BERGE DIESER WELT

Innsbruck war quasi Haralds Nachschlüssel in die leicht geheimbündlerische Subkultur der Vertrider und Bikebergsteiger. Doch so groß die Innsbrucker Szene ist – “sicher über 1000 ambitionierte Freerider” – so schwierig ist sie auch. Wie beim Skifahren gibt es Kontroversen, Diskussionen, Streitereien über etwaige Erstbefahrungen. Nicht das, was Harald will: “zusammen mit Gleichgesinnten mountainbiken, nicht gegen irgendwen.”

Harald sucht sein eigenes Abenteuer in den Bergen, nicht den Wettbewerb mit anderen. Der wäre in den Sphären, in denen er mit seinem Liteville unterwegs ist, sehr schnell sehr final fatal. “Wenn du nach stundenlanger Schlepperei endlich auf dem Gipfel stehst oder nach der Abfahrt, bei der ein Sturz keine Option ist, unten in der Blumenwiese liegst und nochmals zu “deinem” Berg und “deinem” Weg hinaufschaust, ist das schon ein geiles Gefühl. Aber noch besser ist es zusammen mit meinen Kumpels.” Harald will ein Vorbild sein für Biker, die nicht geil nach Stoppuhren, sondern nach Gipfeln, fahrbaren Wegen und der inneren Welle sind. Stichwort: “Flow”.

HARALD PHILIPP

AUF DER SUCHE NACH DER WELLE IN DIR: HARALDS PRIVATER “FLOW”-ZIRKUS:

Allerweltsradler wollen alle das eine: “Flowtrails” hinabsurfen. Das sind fahrtechnisch einfache, meist von Menschenhand gebuddelte “Bobbahnen”, auf denen man Profis wie Harald beide Bremsen abmontieren könnte und sie trotzdem mit einem fetten Grinsen im Tal ankommen würden. Haralds Welt ist eine andere: superschmale, ausgesetzte Rampen mit extra viel Luft unterm Arsch. Wie z. B. in der Brenta oder in den Dolomiten. Hier findet er das, was unter dem Begriff “Flow” durch Wissenschaft und Populärwissenschaft geistert: der Zustand völligen Verschmelzens mit dem eigenen Tun. Kinder sind beim Legospielen oft stundenlang auf der Welle. Sportler wie Harald streben wie die Motten zum Licht nach diesem ganz speziellen Zustand – dem völligen Gleichgewicht von Wollen und Können. Am Berg ist Harald voll in seinem Element, dem Flow.


DER NEUE IM ENDURA-CLAN WEISS GENAU, WAS GEHT. UND WAS EBEN NICHT:

Fragt man ihn später, auf was es in solchen Momenten jenseits von Raum und Zeit ankommt, antwortet er wie aus der Pistole geschossen: “Auf Präzision! Auf einem fünzig Zentimeter breiten Band in der Brenta muss ich auf den Zentimeter genau steuern und bremsen. Sonst bin ich tot. Punkt.” In “no-fall-areas” – Haralds bevorzugtem Terrain – muss er hundertprozentig wissen, was geht. Und was eben nicht. “Die eigentliche Herausforderung ist nicht die steinerne Zickzacktreppe am Abgrund, die du auf dem Vorderrad hinunterhoppelst, sondern die andauernde Entscheidung: Kann ich fahren? Kann ich nicht fahren? Kann ich fahren?" Das hat auch was mit der Tagesform zu tun. Manchmal fährt Harald eine vogelwilde Stelle fast im Schlaf, anderntags schiebt er aus einer inneren Eingebung heraus lieber sein Bike ganz brav hinunter. “Letztes Jahr hat’s mich kein einziges mal geschmissen. Normalerweise fliege ich einmal, allerhöchstens zweimal pro Jahr in die Rabatte. Immer in einfachen Kurven.” Knock on wood, Harald! Und willkommen im Endura-Clan!

FOOTNOTES Words by Andreas Kern. Images by Sean Hardy

© 2021 ENDURA

HARALD PHILIPP

Wahre Abenteuer – Sinnfindung im Himalaya

Ein richtig cooles Bike-Abenteuer, das wär’s! Wer träumt nicht davon? Bike-Bergsteiger und Extrem-Biker Harald Philipp ist Abenteurer von Beruf. Er hat den Gletscher am Monte Cevedale in den Dolomiten mit dem Bike befahren, schwindelerregende Klettersteige in der Brenta, krasse Karst-Trails in den Berchtesgadener Alpen und steile Schotterreiß’n im Karwendel. Gibt es noch eine Steigerung?

In seinem neuen Buch und Vortrag „Pfadfinder“ (ab Anfang 2019) gibt Harald zu: „Die Konsequenz permanenter Flirts mit dem Abgrund wäre, dass ich mich immer öfter in Situationen brächte, für die ich eines Tages unweigerlich mit dem Leben bezahlen würde.“ Eine Überlegung, die ihn dazu veranlasst, immer öfter auch Pfade jenseits des „Höher, Schneller, Weiter“ einzuschlagen. Wege, die in ihm die Erkenntnis haben reifen lassen: „Für großartige, bereichernde Erfahrungen muss man längst nicht immer ans absolute Limit gehen.“

Für großartige, bereichernde Erfahrungen muss man längst nicht immer ans absolute Limit gehen.

Einige der Wege in seinem Projekt „Pfadfinder“ führen Harald in den Himalaya. Viele Alpinisten finden dort ihr Shangri-La, ihr Paradies. Alleine die Dimensionen sind berauschend: Gipfel, vor denen selbst die größten Felsgiganten der Alpen wie Zwerge wirken. Wäre das nicht auch ein Eldorado für Bike-Abenteurer? Ein Gedanke, der Harald nicht mehr aus dem Kopf geht. Anfang 2015 recherchiert er im Internet, findet Bilder von staubigen Wüstentrails vor endlos hohen Gletscherwänden, von saftig grünen Reisterrassen, idyllischen Dörfern, barfüssigen Sherpas mit Packsäcken am Rücken und Freudenfalten im Gesicht, von kleinen Kindern, die Bikern hinterherlaufen, und von bunten Gebetsfahnen vor tiefblauem Himmel. Welch ein Traum! Harald will genau das – und noch viel mehr ….

Dünne Luft, harte Route – Biken wo noch keiner war

Er beginnt zu planen. Mit Trial-Profi Tom Öhler und Mandil findet er die passenden Verbündeten. Mandil ist Nepali, hat in Europa studiert, ist ein begnadeter Biker und erfahrener Tourenorganisator. Haralds Devise: „Wenn schon Himalaya, dann richtig!“ Wie schon oft in den Alpen, möchte er Trails erkunden, die noch kein Biker zuvor unter die Stollenreifen genommen hat. „Tourist zu sein, das wäre schrecklich“, sagt er. „Einfach nur zu konsumieren – pfui! Wir wollen ein richtiges Abenteuer erleben. Wir wollen entdecken, was andere nicht sehen.“

Wir wollen ein richtiges Abenteuer erleben. Wir wollen entdecken, was andere nicht sehen.

Nach einigen Skype-Konferenzen, unzähligen E-Mails und stundenlangem Surfen auf Google Earth steht der Plan: ein Biketrip im Expeditionsstil. Mit zwei Guides und fünf Trägern, von Gosainkund im nepalesischen Langtang Nationalpark nach Kathmandu. Die Ankunft ist für Harald ernüchternd. Es ist Vormonsunzeit. Wie ein permanenter sepia getönter Nebelschleier hängt der Smog über dem südlichen Himalaya. Die Tristesse ändert sich auch in den Bergen nur wenig. Vorbei an trostlosen Wellblechhütten buckeln Harald und Tom ihre Bikes bis auf über 4.000 Meter. Ohne ausreichende Akklimatisierung wird jeder Schritt nicht nur zu einem körperlichen sondern auch zu einem mentalen Durchhaltetest. Hinzu kommen Magenprobleme. Und auch im Team mit Trägern unterwegs zu sein, stellt Harald auf die Probe. Spontane Routenänderungen sind so nicht möglich. Ein paar Ruhetage mit kleineren Bike-Ausflügen an den Gosiankund Seen heben vorübergehend die Laune. Nach drei Tagen zieht die Karawane weiter. Hinauf zum Laurabina Pass auf 4.650 Meter. Ab hier geht es nur noch abwärts, glaubt Harald. Doch weit gefehlt! Die Tour gleicht einer zehntägigen Alpenüberquerung, bei der es genauso viel rauf wie runter geht – und fast alles nur über üble Steinstufen, größtenteils unfahrbar. Der vermeintliche Traumtrip wird zum Alptraum.